Der vergessene Leuchtturm

Zu vergeben und sich vergeben zu lassen prägt die christliche Tradition – und die Verantwortungskultur unserer Gesellschaft. Es bedarf vieler Lernorte, das neu zu entdecken.

 

Die Verdrängung der eigenen Schuld

Wir sind alle kleine Sünderlein: Im Alkoholseligen Karneval geht uns dieser Schlager leicht über die Lippen. Doch in der Realität fallen uns die Einsicht oder gar das Bekenntnis, sündige Menschen zu sein, unendlich schwer. Die Verdrängung der eigenen Schuld begleitet die Menschheit seit Beginn ihrer Geschichte. Schon die Bibel erzählt, dass Eva die Schuld auf die Schlange und Adam sie auf Eva schob. Das satirische Büchlein „Das Narrenschiff“, in dem der Humanist Sebastian Brant vor 500 Jahren das Menschliche und Allzumenschliche treffend auf den Punkt brachte, verallgemeinert das Thema:

Ein Narr ist, wer es wagt und spricht,
Er sei befleckt von Sünde nicht:
Doch jedem Narren das gebricht,
Dass er nicht sein will, was er ist.

Und heute haben Therapeuten bisweilen Patienten in der Praxis, die kaum noch Schuldgefühle kennen. Mag sein, dass früher einmal allzu schnell von Sünde die Rede war, besonders im sexuellen Bereich, und dass viele an übersteigerten Schuldgefühlen litten. Heute ist es eher umgekehrt: Viele leiden an übersteigerten Unschuldsgefühlen, ohne es zu merken. Vielleicht müssen wir alle, Junge und Alte, heute ganz neu lernen, was es mit der Sünde auf sich hat und wie wichtig im Leben die Vergebung ist. Nach Zeiten der Übersteigerung und der Unterschätzung geht es darum, die heilende Kraft der Sündenvergebung wieder zu entdecken und das Befreiende der sakramentalen Versöhnung mit Gott, den Anderen und sich selbst.

Das übersteigerte Unschuldsgefühl

Schuld gehört wie Einsamkeit und Tod zu den Grundrisiken des menschlichen Daseins. Wer in Freiheit handelt, kann auch schuldig werden, wenn er seinem Gewissen nicht folgt.

Dabei gilt es drei Ebenen von Schuld zu unterscheiden:

  • Strafrechtliche Schuld vor dem Gesetz bewertet ein Verhalten, das Rechtsnormen verletzt und für das der „Täter“ verantwortlich ist.
  • Moralische Schuld vor dem Gewissen, das zwischen Gut und Böse unterscheidet, laden Menschen auf sich, die wider bessere Einsicht ihrer Vernunft und ihres Gewissens handeln und sich dem sittlich Gebotenen verweigern.
  • Religiöse Sünde vor Gott wird erkannt am Maßstab des Gewissens, aber auch der Zehn Gebote. Wer seine Schuld vor Gott bekennt, hofft auf Vergebung, auf Heilung gestörter Beziehungen oder zerbrochener Gemeinschaft.

In Kurzform meint Sünde die Verweigerung der Gott und dem Nächsten geschuldeten Liebe, etwa in der Weigerung, Gott anzuerkennen oder anderen in Not solidarisch beizustehen (vgl. 1 Joh 3,17). Sünde ist also die Kehrseite der Gottes- und Nächstenliebe, die Jesus verkündet hat. Aus der wunderbaren Gabe der Liebe Gottes zu uns, die wir in der Gestalt Jesu Christi erkennen können, erwächst die Aufgabe, selbst zu lieben: nämlich Gott, die anderen und sich selbst. Wer sich wissentlich und willentlich dieser Liebe entzieht oder verweigert, der lebt in der Sünde.

Doch vertraut der christliche Glaube auf die Vergebung der Sünden, die im Credo formuliert ist: auf die Möglichkeit, Beziehungen und Gemeinschaft in Liebe wieder zu erneuern. Am Handeln Jesu können wir ablesen, wie er Heilung und Vergebung miteinander verbindet, als er dem Gelähmten die körperliche Bewegungsfreiheit (Heilung) und die seelische Bewegungsfreiheit (Vergebung) wieder schenkte (Mk 2, 1-12). Wer selbst einmal befreiende Vergebung empfangen hat, ist auch fähig, sie weiterzugeben und Versöhnung zu stiften. Daher bitten wir im Vaterunser: „Und vergib und unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.“

Wer vergibt, lebt gesünder

Empirische Untersuchungen in den Vereinigten Staaten zeigen, dass die Bereitschaft, Vergebung („forgiveness“) zu akzeptieren und zu gewähren, positive Emotionen wie Empathie, Sympathie, Mitleid und Liebe freisetzt und zu Selbstkontrolle, Integrität, Sinn für Gerechtigkeit, Wunsch nach Frieden führt. Das wiederum hat einen positiven Einfluss auf die Gesundheit, stabilisiert eheliche Beziehungen und fördert prosoziale Einstellungen

Bei der Vergebung handelt es sich um ein Dreifaches:

  • eine bereuende Erinnerung im Bekenntnis der Sünde, die keine Ausflucht sucht, sondern Verantwortung übernimmt. Daher beinhaltet das Bekenntnis nach alter kirchlicher Tradition auch das glaubende Bekenntnis zum barmherzigen Gott.
  • eine befreiende Tilgung der Schuld durch Christus und die daraus erwachsende Aufgabe: „Vergebt einander, weil Gott euch durch Christus vergeben hat.“ (Eph 4,32)
  • eine erlösende Wandlung der Schuld zu einer „glücklichen Schuld“ („felix culpa“) im Sinn des Exsultet der Osternacht, des immer wieder besungenen Hoffnungsbildes der Christen.

Dieses Vermächtnis ist der Kirche so kostbar, dass sie vielfältige Formen der Sündenvergebung und der Bußpraxis ausgeprägt hat, von den kleinen Formen im privaten Bereich bis zu den sakramentalen Zeichen der Versöhnung. Dazu gehören:

  • die Begegnung mit dem versöhnenden Wort Gottes, sei es durch Hören oder Lesen der Bibel,
  • das Gebet als klagendes oder preisendes, dankendes oder bittendes Gespräch mit Gott,
  • das aussöhnende oder verzeihende Gespräch mit dem anderen, sei er Freund oder Feind, also die „Versöhnung mit dem Bruder“ (Mt 5, 24),
  • der verstehende Dialog mit anderen, seien sie anderer Konfession, Kultur, Rasse oder Religion,
  • die Wiedergutmachung angerichteten Schadens, sei er materieller, ideeller oder psychischer Art, auch wenn sie bisweilen nur symbolisch möglich ist.

Ein besonderer Rang kommt der biblisch verankerten Dreigestalt versöhnender Buße zu:

  • dem Verzicht (Fasten), der dazu befreit, die zwei Dimensionen der Versöhnung mit Gott (Gebet) und mit dem bedürftigen Nächsten (Almosen) zu verwirklichen (Mt 6, 1-18),
  • dem „Dienst der Versöhnung“ (2 Kor 5, 18), der allen Christen im Maß ihrer Möglichkeiten aufgetragen ist. Versöhnung schafft im sozialen Bereich die anerkennende, respektvolle oder liebende Hinwendung zum Anderen, ob in der Familie, in beruflichen oder öffentlichen Zusammenhängen, bis hin zur Gestaltungsverantwortung für die Institutionen sozialen Lebens,
  • dem Bußsakrament, das seit dem II. Vatikanum unter dem Leitwort der Versöhnung steht und in der Beichte eine Gestalt gefunden, bei der vier Elemente eine zentrale Rolle spielen: die Reue, das Bekenntnis, die Lossprechung und die Wiedergutmachung des angerichteten Schadens.

Die Lernorte der Gewissensbildung

Aufs Ganze gesehen hat diese Bußpraxis im Abendland zur Gottesbeziehung (Glaube), zur

Subjektwerdung (Ich-Identität) und zur Ausbildung einer Verantwortungskultur (Solidarität) beigetragen. Wenn junge Menschen heute ganz neu die Beichte für sich entdecken (wie bei den Weltjugendtagen zu spüren ist), dann gibt es Hoffnung, dass das Bußsakrament auch in der Zukunft seinen Segen entfalten kann.

Damit die Bedeutung von Schuld und Vergebung in der Lebenswirklichkeit wieder stärker bewusst wird, brauchen Kinder und Jugendliche Lernorte des Glaubens: eine religiöse Erziehung, ethische Erziehung und Gewissensbildung, bei der sie die vielfältigen Formen von Vergebung praktisch einüben können. In der Familie wirkt das persönliche Vorbild der Eltern im Umgang mit Konflikten prägend – vorausgesetzt, die Eltern haben selbst gelernt, mit schuldhaften Konflikten umzugehen, und pflegen eine Kultur der Vergebung, in die ihre Kinder wie selbstverständlich hineinwachsen können. Erziehung muss Grenzen setzen, die nicht überschritten werden dürfen, zum Beispiel was den Respekt vor Anderen angeht. Wenn Kinder diese Grenzen verletzen, müssen Eltern das ethisch und religiös begründet zurückweisen, zum Beispiel am Maß der sprichwörtlichen Regel: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg’ auch keinem andern zu.“ Oder in biblischer Fassung: „Alles, was ihr von anderen erwartet, das tut auch ihnen.“ (Mt 7, 12) Zur Gewissensbildung gehört aber auch der Hinweis, dass schuldhaftes Tun nicht in eine ausweglose Situation führt, sondern ein Neuanfang durch Vergebung und Versöhnung möglich ist.

Ohne Versöhnung keine Demokratie

Weitere Lernorte sind die religiöse Erziehung im Kindergarten, vor allem aber auch die gemeindlichen Orte, bei denen die kirchlichen Formen der Vergebung zum Tragen kommen, sei es in der Sakramentenkatechese oder im sakramentalen Vollzug der Beichte. Ferner: Zu jeder Eucharistie gehört ein „Bußakt“, in dem alle bekennen, Gutes unterlassen und Böses getan zu haben, und daher das Erbarmen Gottes anrufen: „Kyrie eleison“. Auch Bußgottesdienste, Gebetsnächte oder Solidaraktionen, die Jugendseelsorge und der schulische Religionsunterricht gehören in das Spektrum. Und nicht zuletzt ist, über den kirchlichen und religiösen Bereich hinaus, die politische Bedeutung von Versöhnung zu beachten: Beschweigen von Schuld beschädigt die Demokratie. Daher haben Südafrika, Peru und viele andere Länder zur Bewältigung ihrer bösen Vergangenheit Wahrheits- oder Versöhnungskommissionen eingerichtet.

Die Versöhnung von Gott her, die uns in Christus geschenkt ist, wird zu unserer Auf-Gabe, zu vergeben und sich vergeben zu lassen, im Kleinen wie im Großen. Das gehört zum Herzstück der christlichen Tradition, die in einer unversöhnten Welt wie ein Leuchtturm Licht spenden kann, wenn die Christen selber ihrer Tradition vertrauen und sie leben.

Michael Sievernich SJ